Schuhgeschichte Winter

Ein Schlittschuh erzählt…

Nach jedem Training hat Vanessa geweint, sich den schmerzenden Knöchel gerieben in der Garderobe. Gedrückt haben soll ich sie, immer wieder auf die gleiche Stelle, absichtlich und fies, hat sie ihrer Mutter wiederholt erklärt.

Gesehen hat man nie viel, manchmal war der Knöchel nach intensiven Trainingseinheiten auf dem Eis ein bisschen gerötet. Das ist normal, wir Schlittschuhe sind keine ausgelatschten Finken. So apart wir auch aussehen, jungfräulich weiss mit Blockabsatz über der Kufe schwebend, unsere Hinterkappen sind zäh und bockhart. Müssen sie auch, sonst würden die zarten Sprunggelenkchen der Eisprinzessinnen nach unsauber gestandenen Pirouetten den Rotationskräften nachgeben. Gelenke tolerieren Rotationsbewegungen schlecht. Darum geht es auch so ring, wenn man beim gegrillten Poulet den Schenkel per Drehung vom Rumpf löst.

Zum Schuhmacher haben sie mich gebracht, die Mutter wollte es so. Dieser hat mir den Handschleifer fachmännisch tief ins Fleisch gedrückt. Ein chirurgischer Eingriff in meine Innereien: ein entlastendes Loch auf Höhe des Innenknöchels durch Futter und Verstärkungskappe bis zum Oberleder. Den gewonnenen Hohlraum hat er mit Polstermaterial kompensiert. Eine saubere und exakte Arbeit. Meine Schmerzen höllisch, so ganz ohne Narkose. Gebracht hat es nichts. Vanessa hat wieder geweint nach dem nächsten Training

Ein Justizirrtum: Jahrelang hat man den Falschen verdächtigt. Ich bin nicht der Täter, ich bin unschuldig – vollumfänglich unschuldig. Der Druck kam nie von mir, sondern ausschliesslich von der Trainerin, eine ehemalige sowjetische Eiskunstläuferin, alte Schule, Landesmeisterin im Jahre 1976 in Leningrad. Ihre Methoden rau, der Umgangston grob und Vanessas Talent auf dem Eis bescheiden.

Schlussendlich musste auch die überehrgeizige Mutter, ihre olympischen Träume, die sie stellvertretend für ihre Tochter träumte, platzen lassen. Sie begriff: Der schmerzende Knöchel war nur ein Vorwand, ihre Tochter unglücklich und halt doch nur mässig talentiert.

Nun trägt Vanessa in ihrer Freizeit Reitstiefel. Die scheinen sie nicht zu drücken. Der Reissverschluss klemmt vom vielen auf- und zumachen. An den Sohlen klebt frischer Pferdemist. Vanessa lacht wieder häufiger.      

Und mich haben sie an den Nagel gehängt: verdächtigt, vernarbt und vergessen. Seither warte ich auf eine junge Eiskunstläuferin, Schuhgrösse 36, mit markantem Innenknöchel rechtsseitig – rare Ware. 

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